Wildes Denken
Wozu macht man das alles?: Geschichten und Essays von Fredrik Sjöberg (Autor), Paul Berf (Übersetzer), 224 Seiten, Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG (22. Februar 2016), 19,90 €, ISBN-13: 978-3446250642
Das Umschlagbild zeigt ein glänzenden Citroen aus den 60iger Jahren, voller Kinder und Erwachsene. Außerhalb des Autos beugt sich eine Frau und ein Mädchen zur Heckscheibe, während ein Junge, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, das im Lack reflektierte Bild seines vorgestreckten Bauches betrachtet.
Dieses Bild scheint mir typisch für den Autor und das vorliegende Buch: ein Narziss in ihm (und in uns) der zu Selbstreflexion und Selbstbeobachtung hingezogen wird, aber auch das neugierige Beobachten der Welt außerhalb des Selbst. Und Je mehr sich der Junge zurückbeugt, je größer wird der Bauch im konvexen Spiegel des Lacks. Warum sich mit dem Vettern auf dem Rücksitz auseinandersetzen, wenn es so ein süßes Proben zu untersuchen gilt?
Und genau das macht Fredrik Sjöberg in dieser Sammlung von insgesamt 12 Geschichten, persönlichen Anekdoten, Essays, sehr unterhaltsam mit einer cleveren Ironie.
Ob es um Tropfsteinhöhlen geht oder um unbekannte Krebstiere, um Guonaokäfer, neben dem Interesse an allem was kriecht und fliegt und wächst scheint kein Thema zu klein, um nicht Aufmerksamkeit zu bekommen. Es geht um das Wort ‚Bing’ oder um Briefmarkensammlungen, um umgangssprachliche Ausdrücke für die menschlichen Genitalien,um Ludwig Tieck, um die Frühzeit des Naturschutzes,um Lenin in Stockholm oder die Erfindung der Tasche. Oder wo er nichts für sein geschultes Auge findet, dort sucht er unverwechselbare Seelenverwandte, um sie zu porträtieren.
Weil Menschen mehr an Menschen als an Mäusen interessiert sind, geht es in all seinen Essay und Geschichten immer auch um menschliche Phänome, um ausgefallene Passionen. Es sind kleine, elegante Mini-Vorträge, kleinen unterhaltende Einheiten. Sjöberg verfolgt Seiten- und Nebenwege, nimmt sich den gefundenen Merkwürdigkeiten und (auto)biographischen Souvenirs mit besonderer Sorgfalt an, und fächert so sukzessive seinen weitverzweigten Erfahrungsschatz auf.
Sjöbergs Essays sind solchen beweglichen und wandelbaren Gegenständen gewidmet: Zu aller erst finden die Themen ihren Darsteller Sjöberg – und nicht umgekehrt –, der sich deren Bedeutung erst allmählich im Laufe seiner Überlegungen bewusst wird. Als neugieriger Sammler. Dass der Autor lange als Entomologe tätig war, rechtfertigt die Einschätzung, dass hier ein genauer Beobachter nach einem eigenwilligen poetischen System sammelt und reflektiert.
Fredrik Sjöberg hat einen ganz besonderen Stil. Er sammelt Fehler, wahrscheinlich leicht nach vorn gebeugt die Hände auf dem Rücken, schreibt er doch zurückgelehnt, mit einem Augenzwinkern, in einem britisch anmutenden Stil. Sehr vergnüglich und mit einem guten Auge für Tiefen unter der glänzenden Oberfläche. Ironisch, auf eine ein wenig altmodische, kunstvolle Art und Weise.
Dieses Büchlein erfordert Energie für all diese Neugier, und auch die richtige Stimmung. Und Sie sollten viel Zeit mitbringen, für die hoch interessanten Details der Geschichten. Aber wer es liebt, Gewicht und Relevanz der behandelten Gegenstände und Themen selbst ein zu schätzen, der wird ein wahres Lesevergnügen erleben.
Dann beantwortet sich auch die Titelfrage „Wozu macht man das alles?“ selbst – in diesem Vorgang des Suchens, des Herantastens, des Skizzierens und des Verwerfens. Es ist eine Ermutigung zum ‚wilden Denken’.
Wer daran Freude hat, dem sein dieses Buch sehr ans Herz gelegt.
Hier geht es direkt zum Buch auf der Seite des Hanser Verlages
http://www.hanser-literaturverlage.de/buch/wozu-macht-man-das-alles/978-3-446-25064-2/
Fragen Sie in Ihrer örtlichen Buchhandlung nach diesem Buch. Wenn Sie in meiner Gegend „Landkreis Merzig-Wadern“ leben, dann wenden Sie sich an die Rote Zora: http://www.rotezora.de