Archiv für den Monat Februar 2017

Rezension: Thomas & Mary – Tim Parks – Antje Kunstmann Verlag

Eine Liebesgeschichte, die keine ist

Thomas & Mary – Tim Parks, 336 Seiten, Verlag: Kunstmann, A; Auflage: 1 (15. Februar 2017), 22 €, ISBN-13: 978-3956141645

Tim Parks schreibt oft über Italien, wo er lebt. Sein neuester Roman kehrt zu seinem Geburtsort Manchester zurück.

Szenen einer Ehe. Die alltäglichen Konflikte.  Wie Thomas seinen Ehering am Meer verliert, damit beginnt die Geschichte. Es folgen viele Alltagsszenen: Was wird im Fernsehen geschaut? Wer geht wann und vor wem zu Bett? Wer geht wann und warum mit dem Hund raus? Lapidare Alltäglichkeiten.

Nachdem sie zwei Kinder erzogen haben, leben sich Thomas und Maria langsam aber sicher auseinander und Tim Parks folgt diesem schmerzlichen Prozess durch all seine Windungen und Wendungen. In einer Sammlung von miteinander verknüpften Kurzgeschichten, die meisten aus der Sicht von Thomas erzählt, entsteht ein Roman über die kleinlichen Ressentiments, so persönlich und universell wie schmutzige Wäsche. Der Autor liefert eine fast buchhalterisch nüchterne Darstellung des langsamen Auseinanderlebens.

Eigentlich gibt es keinen Grund für das Scheitern von Thomas und Marys Ehe. Stattdessen wird das allmähliche Nachlassen der Intimität und das Einschleichen von Selbstgefälligkeit aufgezeichnet und untersucht. Es liest sich wie Zeugenaussagen, bei denen die Sprecher keine Auswirkungen auf das Ergebnis haben können. Die beschriebenen Banalitäten, von Missverständnissen, Groll und verlorener Leidenschaft sind eine genaue Reflexion darüber, wie die meisten Ehen enden.

Tim Parks folgt nicht einem sauberen Erzählbogen, sondern liefert Fragmente, kurzen Episoden die zufällig in der Zeit und der Sichtweise hin und her springen. So wird der Autor der Komplexität von Beziehungen und der nicht getroffenen Entscheidungen gerecht. Das wirkliche Leben ist komplizierter und jede Wahrheit hat mehrere Perspektiven. Und genau hier liegt meiner Meinung nach der Reiz dieses Romans: Die Dinge sind weder gut noch schlecht, aber es entsteht ein vages Gefühl, das sich die Situation verändern könnte. „Irgendwie kam es ihm so vor, als ließe sich das Problem lösen, wenn er noch einmal ans Meer fahren und den alten 22-karätigen goldenen Ring, auf dessen Innenseite ihre Namen und ihr Hochzeitsdatum eingraviert waren, wiederfinden und ihn sich an den Finger stecken würde; dann würde die Welt wie von Zauberhand wieder so sein wie zuvor. Wie viele Jahre zuvor. Das passiert nicht.“ (Seite 9)

Nicht untypisch für die reale Welt, Maria selbst hat keine Stimme. Wir sehen sie durch die Augen der anderen. So scheint es mir auch mehr ein Buch zu sein über Thomas und nicht über Thomas & Maria. Thomas ist die Art von Mann, der nicht bereit ist zu sehen, wie er sich anders hätte verhalten können.

Der Stil von Tim Parks ist wie immer kurz, bündig und unaufgeregt. Und eines beherrscht er bis zur Perfektion: zu zeigen, dass die kumulative Wirkung von kleinen Ereignissen genauso schädlich sein kann, wenn nicht mehr als eine einzige, große Katastrophe. Aufschlussreich wie Tim Parks es schafft sich in Gedanken- und Gefühlsgänge dieses Mannes hinein zu versetzen und die widersprüchlichen Gefühle offenlegt.

Ein amüsanter und gleichzeitig tief trauriger Roman, ein literarischer Roman, der die Tragödie einer gebrochenen Ehe mit komödiantischen Untertönen porträtiert.  Für den geübten Leser besonders reizvoll: Er muss selbst beurteilen, ob das alles sinnvoll ist.

Hier geht es direkt zum Buch auf der Seite des Antje Kunstmann Verlages

http://www.kunstmann.de/titel-1-1/thomas_und_mary-1173/

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Rezension: Der Mann, der Luft zum Frühstück aß – Radek Knapp – Deuticke Verlag

Such dir eine eigene Heimat

Der Mann, der Luft zum Frühstück aß – Radek Knapp, 128 Seiten, Deuticke Verlag (20. Februar 2017), 16 €, ISBN-13: 978-3552063365

Der zwölfjährige Walerian emigriert unfreiwillig von Polen nach Wien. Schule und Mutter setzen ihn nach kurzer Zeit auf die Straße. Er gerät in eine völlig andere Welt mit anderer Sprache, anderen Typen, anderen Mentalitäten.

Auf seinem Weg zum Erwachsenwerden begegnet er vielen Menschen, vielen Berufen und manch heiklen Situationen, die ihn prägen, verändern. Walerian sucht seine Heimat, versucht in der fremden Welt seine eigene Identität zu finden und zu entwickeln. Das Thema ist also mehr als zeitgemäß

Radek Knapp schreibt unaufgeregt, fast lapidar mit distanzierter Ironie, kurzweilig. Gleichzeitig sind seine Texte subtil und feinsinnig. Vieles wird nur angedeutet. Typisch für Radeks Erzählstil, für eine Gabe Bilder mit Worten zu malen ist schon der erste Satz des Buches: „“Niemand wusste so richtig, was im Kopf meiner Mutter vorging. Leute, die sie kannten, behaupteten, dass dort eine entzückende Leere herrschte, andere wiederum konnten geradezu den Donner hören, den der eingeschlossene Geist beim Nachdenken erzeugte.“ (Seite 7)

Es ist eine Erzählung, nein, es sind vierzehn kleine Erzählungen, die sich zu einem veritablen Roman verdichten.

„Ab jetzt wirst du viele Grenzen überschreiten. Sie werden aus dir etwas machen, was ich nie geschafft hätte. Einen Mann.“ (Seite 9) Diese Aussage von Walerians Mutter zeigt die Richtung der Geschichte. Eine wunderschöne Erzählung voller Elan, die jungen Menschen zu eigen ist, die an der Grenze zum Erwachsensein stehen. Gleichzeitig macht Radek Knapp diese innere Zerrissenheit eines Kindes deutlich, dem die Verbindungen zu seinen Wurzeln durchtrennt wurden. Was will es wissen? Was soll es tun? Was darf es hoffen?

Das Buch hat für mich einen verhaltenen Charme, dem sich der Leser nur schwer entziehen kann. Und es ist ein engagiertes Buch mit einer klaren Haltung wider die Menschenverachtung. Eine sehr lebensbejahende intensive Geschichte über das Erwachsen werden und über die Suche nach Heimat.

Das kürze Büchlein lässt sich leicht in einem Rutsch lesen. Nehmen Sie es anschließend noch einmal zur Hand und genießen Sie es häppchenweise. So entdecken Sie immer mehr tiefsinniger, versteckter Botschaften. Sie entdecken die Ermutigung, sich der planvollen Entmündigung in unserer Zeit zu entziehen und die Ungewissheit anzuerkennen, die unser Leben durchzieht.

So gilt für uns alle das Motto: „Such dir deine eigene Heimat. Koste es was es wolle.“ (Seite 97) Und so können Sie sich in diesem Buch auf die eigene Suche begeben, mal lustig, mal nachdenklich und manchmal auch verwirrend.

Hier geht es direkt zum Buch auf der Seite des Deuticke Verlages

https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/der-mann-der-luft-zum-fruehstueck-ass/978-3-552-06336-5/

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Rezension: Strandbadrevolution – Kurt Palm – Deuticke Verlag

Gib mir Schutz – ein Sturm bedroht heute mein Leben

Strandbadrevolution – Kurt Palm (Autor) 256 Seiten, Deuticke Verlag (20. Februar 2017), 20 €, ISBN-13: 978-3552063372

„Am Himmel stehen tausend Sterne. Lass sie dort wo sie sind.“ (Seite 146) Dieser Satz steht mir stellvertretend für die Träume und Illusionen eines besonderen Jahrzehnts.

Die 50er und 60er Jahre sind vorbei. Gemeinsames Badewasser gibt es nicht mehr, aber immer noch geteilte Telefonanschlüsse. Es sind die 70er Jahre. Die engen Denkweisen und das armselige Grau der Nachkriegsjahre scheinen überwunden, das bunte Jahrzehnt hat begonnen.

Mick erzählt uns die Geschichte. Eigentlich heißt er Ernst und wird von vielen Ernsti genannt, aber er nennt sich nach seinem Idol Mick Jagger. Eine Geschichte in deren Mittelpunkt zum einen seine Freunde stehen: Mü, der Müller heißt, Candy, Taylor und Hendrix. Da gibt es noch Rick, der Gitarrenspieler, der immer seine Haare theatralisch zurückwarf und dabei lässig bemerkte: „Ich habe in London Deep Purple bei Studioaufnahmen begleitet.“ (Seite 11)

Alle sind irgendwo zwischen 15 und knappen 20 Jahre alt und, ja, lässig wollen sie alle sein. Auf jeden Fall wollen sie etwas verändern, eine Revolution einleiten, die Musik entscheidend beeinflussen oder eben mindestens als lässige, coole Typen wahrgenommen werden. Dem Mick würde es fast schon reichen, wenn ihm überhaupt jemand irgendeine Form der Aufmerksamkeit schenken würde, vor allem wenn er dadurch Personen des weiblichen Geschlechts etwas näherkommen könnte.

Bis dahin lesen sie Camus, Adorno und Sartre, planen revolutionäre Aktionen „Erhebt euch, ihr Untertanen! (Seite 40), gehen ins Schwimmbad, „Ich setzte mich im Schneidersitz auf mein Badetuch und warf meine Haare theatralisch nach hinten. Aber niemand sah mir dabei zu.“ (Seite 36) oder verfassen wie Candy Traktate: „intensiv leben kann man nur auf kosten des ich.“ (Seite 15), treiben sich auf Rockkonzerten rum. Die Musik, insbesondere die Songtexte, vor allem die der Rolling Stones geben ihnen alle Orientierung und Lebenshilfe.

Kurt Palm entwirft ein stimmiges Bild, wie das damals, Anfang der 70er so war in der österreichischen Provinz. Die scheinbare Idylle in der Familie und die Konflikte, die natürlich alle außerhalb der Familie liegen. Eine Jugendzeit, wie sie tausendfach erlebt wurde.

Kurt Palm erzählt uns einfühlsam, ja liebevoll vom Ende der Kindheit und dem Beginn von etwas, das vielleicht Leben heißt, von Liebe und Tod und dem Anfang von vielem, das Ende von etwas.

Leicht und locker geschrieben. Vor allem die Dialoge sind stimmig, geradezu dem Leben abgelauscht. Faszinierend wie Kurt Palm ein bis in die Details korrektes Bild des Beginns des roten Jahrzehnts entwirft und dabei auch die schwarzen Seiten nicht auslässt.

Ein Lesegenuss für alle, die diese Zeit bewusst miterlebt haben und für alle, die sich ein Bild davon machen wollen, wie ihre eigenen Eltern groß geworden sind.

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https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/strandbadrevolution/978-3-552-06337-2/

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Rezension: Frische Gedichte – F.W. Bernstein – Antje Kunstmann Verlag

Heiterer Gelassenheit

Frische Gedichte – F.W. Bernstein (Autor), 208 Seiten, Verlag: Kunstmann, A; Auflage: 1 (15. Februar 2017), 18 €, ISBN-13: 978-3956141690

„Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche.“ Diesen Spruch kennt jeder. Den Autor kennen viele nicht. Es ist F:W. Bernstein, deutscher Lyriker, Grafiker, Karikaturist und Satiriker.

„Unfugskünstler“ hat ihn einmal die Illustrierte „Stern“ genannt. Er selbst bezeichnet sich als „alter Zeichenzausel“.

Urkomisch sind seine Sprüche, Satiren, Zeichnungen und seine Alltagsgedichte: albern, geblödelt, Nonsens und gleichzeitig hintersinnig, tiefgründig und gar philosophisch.

In neun Abschnitten bringt uns dieses kleine Bändchen 130 Allerwelts- und Gelegenheitsgedichte, die einfach gute Laune machen. Gedichte von einer heiteren Gelassenheit.

Vom Regierungsantritt von Angela Merkel über eigene Schaffenskrisen, von Vincent Klings Knödel über das Weltenende bis zum täglichen Kampf mit den Hosenbeinen, von Kursstürzen und Kaninchenjagden, davon und von vielem anderen erzählen diese Gedichte. Sie spekulieren nicht mit einer Pointe, mit einem sicheren Lacher, sondern mit dem, was der Autor „Sinnschwund“ nennt. Das Gedicht erzeugt durch seinen Aufbau, seine musikalische Struktur, einen berückenden Sound, während der Sinn der Sache sich unmerklich davonschleicht.

Mein absolutes Lieblingsgedicht ist Rilkes Reißnagel: Sein Stich ist vom jahrzehntelangen Stechen / so stumpf geworden, dass er kaum mehr sticht. / So viele spitze Stifte endlich brechen – / sein kleiner gold`ner Stichel, der bricht nicht.“ etc. (Seite 71)

Ein witziges Spätwerk von überragender Freiheit, Tollheit, Munterkeit, lautem Übermut, ja, von schamloser Heiterkeit.

Bernsteins Gedichte sind nicht für jedermanns Geschmack. Aber wer sich mit seinem Programm einverstanden erklärt, ist hier genau richtig:

Ihr sucht / Verse von schnatternder Wucht? / Ihr findet sie hier: / Alle von mir!

Er ist ein Zauberer der Worte und mit Bernsteins komischen Gedichten fängt für Sie jeder Tag gut an: „O Morgenröte um halb acht, / die kalte Nacht vergangen. / Ich lebe und bin aufgewacht. / Der Tag hat angefangen.“ (Seite 14)

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http://www.kunstmann.de/titel-0-0/frische_gedichte-1179/

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Rezension: Der Mann in der fünften Reihe – Véronique Olmi – Antje Kunstmann Verlag

Eine Nacht des Wanderns

Der Mann in der fünften Reihe – Véronique Olmi (Autorin), Claudia Steinitz (Übersetzerin), 112 Seiten, Kunstmann, A; Auflage: 1 (15. Februar 2017), 18 €, ISBN-13: 978-3956141676

Das Buch startet auf einer Freilichtbühne. „Ich weiß nicht, wie lange ich schon auf dieser Bank sitze. Seit Stunden fährt kein Zug mehr ab, kommt keiner mehr an. Ein regloser Bahnhof. Eisige Stille bis ins Mark meiner Knochen.“ (Seite 7) So beginnt die Erzählerin ihren vielschichtigen Monolog.  An diesem Abend kehrt sie nicht nach Hause zurück, sondern verbringt die ganze Nacht auf dieser Bank am gare d l’est. Sie ist in einem Vakuum gelandet, aber ihr Gehirn ist in vollem Gange, bereit zur Explosion. Sie beginnt Wer ist diese Frau?

Nelly ist eine 47 Jahre alte Frau, Mutter von zwei Jungen und Theaterschauspielerin, die ihre Tage im Erwartungsstress bis zu ihrem Auftritt, zu ihrer Show-time am Abend verbringt. „Ich bin siebenundvierzig und warte immer noch darauf, dass mein Leben anfängt.“ (Seite 24)

Im Augenblick spielt sie in dem Stück „Sechs Personen suchen einen Autor“ von Luigi Pirandello. Es ist eine Tragödie von Missverständnissen und Schrecken; von der Unfähigkeit, sich auszudrücken und, zu kommunizieren. Und tatsächlich scheinen die Frau und die Schauspielerin zu verschmelzen. Wer leidet hier? Die Rolle oder die Frau selber. Bilder ihres Lebens kommen zu ihr zurück wie Bumerangs. Sie liefert eine Art Beichte ab: über die Atmosphäre in der Umkleidekabine, über die panische Angst vor dem Zuspätkommen, vor dem Vergessen ihres Textes, über die Aufregung auf der Bühne, über ihre Kindheit am Meer, ihre Eltern, ihren Geliebten, über eine Mutter, die nach und nach in die Dunkelheit des Vergessens sinkt; über einen Vater, eine wunderbar tragische Figur in seiner zweiten schüchternen Rolle, wo es vielleicht Einsamkeit oder Versuchung von Selbstmord gab; über ihre Söhne, die nicht wissen, „wie sehr sie schon vor mir wegrennen.“ (Seite 36) Und natürlich über den Mann, den idealen Mann am idealen Platz in der Mitte der fünften Reihe, dem sie sich verweigerte, ohne ihn zu vergessen. „Diesen Mann in der Mitte der fünften Reihe – der ideale Platz. Diesen Mann, dessen Name ich seit sechs Monaten verschweige, dessen Existenz ich verleugne. Seine Anwesenheit, die meine vernichtet.“ (Seite 61)

Es gibt keine Gnade für Nelly. Woher bezieht sie die Kraft, sich vor dem Versinken zu retten? Eine lange Geschichte, ein schöner Monolog einer Frau, die in den Fallen der Leidenschaft gefangen ist. Véronique Olmi variiert ihr Hauptthema: das leidenschaftliche Leben von und für Liebe. Sie zeigt uns die Schwierigkeit der Liebe, die Sehnsucht nach Liebe und die unmögliche Liebe. Und sie beschreibt perfekt die verheerenden Auswirkungen der Leidenschaft, das Glück, das sie bringt, und vor allem die Schmerzen die sie verursacht. Wie kaum eine Zweite versteht es Véronique Olmi auf sehr reife, subtile Weise Emotionen genau und kraftvoll zu destillieren und diese Schlüsselmomente festzuhalten, wenn ein ganzes Leben kippt. „Lieben oder sterben wollen, eigentlich ist es dasselbe: der Wunsch, woanders zu sein.“ (Seite 18)

Die zerbrechliche Nelly Bauchard sucht nach Antworten: „Wie nennt man eine Liebe, die weder enden noch neu beginnen, sich weder belügen noch erniedrigen kann?“ (Seite 100); Warum vereinigen wir uns mit Menschen, die uns lieben und uns irgendwann in Fetzen zurücklassen? Warum geben wir dem anderen, was wir so sorgfältig bewahrt haben?“ (Seite 107)

Véronique Olmi liefert eine fragmentierte Erzählung. Kurzer Absatz auf kurze Absätze, mit viele kleinen Szenen. Ihre Sprache ist wie Musik, einfache Akkorde, die den Ton verzweifelter, weiblicher Charaktere treffen. Ein Text kurz, aber reich, gefühlvoll und subtil, der uns auf zwei Ebenen unterhält. Mich berührt dieser präzise und fast minimalistische Stil. Mir scheint, dass dieses Buch eine ganz ausgezeichnete Vorlage für ein Ein-Personen-Stück am Theater geeignet wäre. Ein herausfordernder Monolog für eine große Schauspielerin, wie zum Beispiel Isabell Huppert.

Véronique Olmi hat uns eine brillante zeitgenössische Variation zum Denken von Tristan in „Tristan und Isolde“ geliefert, der Beweis, dass Leidenschaft ebenso zeitlos ist, wie sie der menschlichen Natur eigen ist: Oder wie Gustave Flaubert sagte „Liebe erblüht im Staunen einer Seele, die nichts erwartet und sie stirbt an der Enttäuschung des Ichs, das alles fordert.“

Mit Véronique Olmis traurigem und berührendem Buch „Der Mann in der fünften Reihe“ wählen Sie eine Lektüre in dessen erzählerischen Spannung Sie sich verlieren, ja ertrinken können. Das Buch wird Sie verführen.

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http://www.kunstmann.de/titel-0-0/der_mann_in_der_fuenften_reihe-1145/

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Rezension: Aus Liebe zu den Pflanzen – Stefano Mancuso – Antje Kunstmann Verlag

Alles ist Blatt (J.W. von Goethe)

Aus Liebe zu den Pflanzen – Stefano Mancuso (Autor), Christine Ammann (Übersetzerin), 176 Seiten, Verlag: Kunstmann, A; Auflage: 1 (15. Februar 2017), 22 €, ISBN-13: 978-3956141706

Es gibt Nobelpreise für Physik, Chemie, Physiologie oder Medizin, Literatur und für Friedensbemühungen. Wo bleibt die Biologie? Eine unterschätzte Wissenschaft?!

Ja, wer verbindet mit Biologe nicht das Bild des verschrobenen Studienrates, der mit Botanisiertrommel durch die Landschaft streift, Blütenblätter zählt und Blattformen bestimmt, alles eifrig sammelt, trocknet, presst und in handbeschrifteten Kladden sammelt?

Und unterschätzen wir die Bedeutung der Pflanzen nicht ebenso?

Nicht so Stefano Mancuso, der schon in seinem Buch „Die Intelligenz der Pflanzen“ sagte: Pflanzen sind uns ähnlicher als wir glauben: „Bäume leben so ähnlich wie wir. Sie essen und wachsen, kämpfen mit der Armut, sind betrübt und leiden. Sie können stehlen, sich aber auch gegenseitig helfen, Freundschaften schließen und ihr Leben für die Nachkommen opfern.“ (Seite 152)

In seinem neuen Buch „Aus Liebe zu den Pflanzen“ zeigt er uns mit Botanikern, Genetikern und Philosophen, aber auch Landwirte und schlichte Liebhaber aus fünf Jahrhunderten bekannt, die alle zu seiner Erkenntnis beigetragen haben: „… dass ich Pflanzen heute als komplexe Wesen mit kommunikativen Fähigkeiten, raffinierten Verteidigungsstrategien und sozialen Beziehungen betrachte, verdanke ich zu einem großen Teil den Protagonisten dieses Buches.“ (Seite 7)

Zwölf Männer stellt er uns vor: George Washington Carver, der erste Schwarze, der an einer amerikanischen Universität studierte; Nikolai Iwanowitsch Wawilow, der mit einer Samenbank Russlands Nahrungssicherheit geben will; Ephraim Wales Bull, der die Concordtraube zu einem Erfolgsmodell werden ließ; Leonardo da Vinci, der sich mit Blattstellungen (Phyllotaxis) beschäftigte; Marcello Malpighi, der die Pflanzenanatomie begründete und als Galileo Galilei der Botanik bezeichnet wird; Charles Darwin, der seinen ersten Anstoß zur Entwicklung der Evolutionstheorie durch die Erforschung der Pflanzenwelt erhält; Federico Delpino, der als erster die Mechanismen erforscht, die Pflanzen zur Interaktion mit der Umwelt befähigen und so zum Begründer der Pflanzenbiologie wurde; Odoardo Beccari, der den Titanwurz entdeckte; Gregor Johann Mendel, dessen Forschungsergebnisse aus den Erbsenkreuzungen noch heute die Therapieforschung zur Heilung von Krebs nachhaltig beeinflusst; Johann Wolfgang von Goethe, der nach dem Urorgan sucht; Jean-Jaques Rousseau, der ganz vernarrt in die Botanik war; Charles Harrison Blackley, der die Verursacher des Heuschnupfens entdeckte.

Ein Buch voller Neugier und Liebe für das grüne Universum. Mancuso bietet uns die Geschichten, zeigt die Idee, das Genie von jedem, gibt uns Hinweise, weckt unsere Neugier. Es sind Geschichten von liebenden Naturforscher, Botaniker, Genetiker, Philosophen, Entdecker, ihrem Leben, Anekdoten, Experimente und Forschungen, die unser Verständnis der Pflanzenwelt revolutioniert haben.

Entstanden ist ein kleines, gut geschriebenes Meisterwerk über wirklich außergewöhnliche Geschichten von berühmten und weniger bekannten Persönlichkeiten.

Mit seinen 176 Seiten ließe sich das Büchlein schnell lesen. Aber Sie sollten es sehr sorgfältig lesen, ja, langsam und aufmerksam studieren. Erst dann werden Sie erkennen, dass Stefano Mancuso uns eine seltene aber wichtige Fertigkeit lehrt: die Fähigkeit, Dinge zu sehen, die uns umgeben. Vielleicht wird dann auch im Leser dieses tiefe Gefühl geweckt, das über das Wahrnehmen physikalischer Phänomene hinausgeht und uns die Lebenskraft der Natur fühlen lässt. Und ein Bewusstsein dafür zu wecken, was die Pflanzenwelt für uns Menschen und unsere Zukunft bedeutet. Vielleicht helfen uns die Lebensberichte der 12 Männer dabei, die Perspektive eines Kindes mit seinen Fragen wieder einzunehmen.

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http://www.kunstmann.de/titel-0-0/aus_liebe_zu_den_pflanzen-1176/

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Rezension: Denen man vergibt – Lawrence Osborne – Klaus Wagenbach Verlag

Das dünne Eis der Kulturen

Denen man vergibt – Lawrence Osborne (Autor), Reiner Pfleiderer (Übersetzer), 272 Seiten, Verlag Klaus Wagenbach, Verlag (3. Februar 2017), 22 €, ISBN-13: 978-3803132864

Eine dekadente Wochendparty mitten in der Wüste von Marokko. Veranstalter und Einlader ist das schwule Paar Richard und Dally. Das englische Ehepaar David und Jo Henniger wollen ihrer unglücklichen Ehe und ihrem unglücklichen Leben in London entfliehen, aber ihre Probleme sind ihnen gefolgt. Sie kommen zu spät. Sie hatten einen Unfall. Und ab jetzt ist nichts mehr wie es war. Unvorhergesehenes und Unerwartetes machten die Situation extrem kompliziert. Ist David ein Alkoholiker? Sind alle Menschen aus dem Westen rücksichtslos und moralisch unverantwortlich? Kann Reue ausreichen, um ihr Schicksal zu beeinflussen?

Gewalt und Ausschweifungen in der marokkanischen Wüste führen zu kulturellen Missverständnissen … und zu mehr Gewalt und Ausschweifungen. Osborne schafft ein fiebriges und erschreckendes Szenario: die internationalen Gäste, von denen einige mit dem Hubschrauber angekommen sind, das verschwenderische Essen und die Getränke aus der ganzen Welt eingeflogen, das Kokainschnupfen, der einheimische Honig, gewürzt mit Cannabis, das Nacktschwimmen, und diese Dekadenz wird subtil gegen die Reaktion der örtlichen Marokkaner gesetzt, die die unverschämten Westler beneiden und verachten. Hamid, der oberste Hausdiener, der die teuren ungläubigen Weine dekantiert, beaufsichtigt die Picknicks, das Feuerwerk und die endlose Versorgung mit Eis, Champagner und Kif, ist ein wunderbar gezeichneter Charakter. Er versteht gut beide Welten, in denen er lebt. Und er hat eine tiefe Abneigung gegen westliche Werte. Dieser Zusammenstoß von Werten ist eines der Motive dieses Buches.

Der Glanz der Partys und ihrer Gäste stehen im Gegensatz zu den düsteren Lebeweisen der armen Marokkaner: Ein Zusammenstoß der Welten, die postkoloniale Angst und die seit dem 11. September gewachsenen kulturellen Missverständnisse.

Verschiedene Elemente von „Der große Gatsby“ tauchen in diesem Buch auf: extravagante Parteien, sorglose Menschen, eheliche Zwietracht. Lawrence Osborne hat ein scharfes Auge für diese Art von sozialer Gelegenheit. Er schildert die Leere und Hohlheit der hohen Gesellschaft so herrlich und schneidend, wie er das Unbehagen der Kulturen in die unversöhnliche Wüste verlegt.

Es ist unglaublich, wie viele Charaktere Lawrence Osborne erschafft. Es gibt sensible Porträts von Männern und Frauen, Besuchern und Marokkanern. Besonders gelungen sein Porträt einer missglückten Ehe. Er seziert seine Charaktere gnadenlos, wenn er zum Beispiel Richard über David Henninger sagen lässt: „Ein Mediziner, der nur öffentliche Schulen besucht hat. Was erwartest du denn?“ (Seite 86) Und nicht nur seine Charaktere, auch die jahrhundertealte kulturelle Kluft zwischen den Wüstenleuten und den westlichen Ungläubigen zerlegt er mit der Präzision eines Pathologen. „Die Ungläubigen kannten keine Zufriedenheit, kein Feingefühl. Sie hatten keinen Sinn für Ordnung, Sauberkeit und Anstand.“ (Seite 80) Er verbindet Angst, Langeweile, Vergebung, Urteil, Ehre und sexuelle Anziehung in seinem Roman, der mit einem finsteren Tempo auf sein Ende stürzt, das zugleich ironisch, überraschend, dunkel und komplett passend ist.

Niemand ist unschuldig in dieser Geschichte. Werden alle verzeihen und vergessen, oder gibt es Dinge, die man nicht vergeben kann? Diese Frage hängt über der Erzählung bis zur allerletzten Seite.

Lawrence Osborne hat ein scharfes und manchmal grausames Auge für Menschen und ihre Manieren und Moral und für die natürliche Welt. Sie können fast jede Seite öffnen und finden brutal feine Beobachtungen, zynisch, zärtlich, außerordentlich akut über die menschliche Natur. Er schreibt eine schön nuancierte Prosa, intensiv und mit viel Liebe zum Detail voller Atmosphäre und Spannung. Und er liefert moralischer Mehrdeutigkeit in Hülle und Fülle.

So kann und sollte dieser Roman aus vielerlei Blickwinkeln gelesen werden. Einmal unter dem Aspekt der Entfremdung voneinander. Zum anderen unter dem Blickwinkel der Überbleibsel des Kolonialismus. Oder unter der Perspektive der ganz unterschiedlichen Kulturen, die hier aufeinanderprallen. Aber auch die hoffnungsvolle Sichtweise ist vertreten, wie ein Mensch in einer sehr schlimmen Situation mit dieser leben und sich sogar verbessern kann.

Es gibt so viel Möglichkeiten, das Buch zu lesen, dass man am Ende gerade wieder neu beginnen könnte.

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https://www.wagenbach.de/buecher/titel/1085-denen-man-vergibt.html

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Rezension: Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens – Juliana Kálnay – Klaus Wagenbach Verlag

Surreal, absurd aber poetisch

Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens – Juliana Kálnay (Autor) 192 Seiten, Verlag Klaus Wagenbach, 20 €, ISBN-13: 978-3803132840

Da hat sich was angesammelt im Haus Nummer 29: Rita, die Beobachterin mit geheimnisvollen Fähigkeiten und unklaren Absichten; Don, der zum Baum geworden ist, was seine Frau Lina nicht davon abhält, sich liebevoll um ihn zu kümmern; Ronda mit ihren Goldfischen in einem fensterlosen Raum; der unbemerkte Tom, der sich im Aufzug eingenistet hat; und natürlich Maia, die Kleine, die sich durch Mauern beißt, die Löcher gräbt, um sich zu verstecken und eines Tages einfach verschwunden ist.

Eine Hausgemeinschaft, die zusammenlebt, aber nicht zueinander findet. Wir sehen Dinge, die keiner zeigt: Wir verstehen das, was keiner sagt. Oder eben auch nicht.

Aus vielen Perspektiven erzählt Juliana Kálnay surreale, alltägliche und schräge Episoden aus dem Alltag. Von verschwundenen Socken, von Stromausfall, von chronisch Schlaflosen „Sie zählen hundert Augen, sind leise und werden ungemütlich, wenn es sein muss.“ (Seite 53), von Gucklöchern in Zimmerwänden.

Beunruhigend und ergreifend wagt sich die Autorin ins Traumhafte, ins Absurde. Sie notiert anscheinend alles und fasst es in einer inspirierenden Geschichte, eine Art Erinnerung an sie alle zusammen. Sie sucht, sie erforscht, sie rätselt und es entstehen Texte, philosophisch, existenziell, die über die Geschichte des Lebens und die Absurditäten des menschlichen Zustandes erzählen.

Sie verbindet Triviales wie, sie „hat ja sonst keine Hobbys im Leben, außer auf dem Balkon sitzen und stricken,“ (Seite 63) mit scharfsinnigen, sozialen Beobachtungen. „Früher waren wir weniger und saßen dichter zusammen.“ (Seite 77) bis hin zu schrägen Beobachtungen. „Oscar hatte keine Katze, aber eine Katzenklappe zum Balkon hin. Im vierten Stock …“ (Seite 58)

Surreal, abstrakt, manchmal bizarr, manchmal konkret legt sie Schicht um Schicht zu einem amorphen, vieldeutigen, informellen Bild übereinander. Ein mysteriöses Bild, das sich wohl nie ganz entschlüsseln lässt, das aber jeden Leser in den Teufelskreis unlösbarer Fragen zieht, mit denen jeder konfrontiert ist: die Fragen der Zeit, der Einsamkeit und der Existenz.

Juliana Kálnay schreibt poetisch und unzeitgemäß im allerbesten Sinne, beunruhigend und ergreifend, leicht und poetisch. Ihre Textaufteilung bei Dialogen ist verblüffend und lässt neue Perspektiven zu. Ihre Charaktere zeichnet sie mit wenigen Strichen und treffend. „Tom hatte eines von diesen Gesichtern, die nicht auffallen.“ (Seite 36)

Jeder Leser wird hinter diese vielen Ebenen seine eigene Geschichte finden oder erfinden. Ein ausgesprochenes Lese- und Denkvergnügen.

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https://www.wagenbach.de/buecher/titel/1083-eine-kurze-chronik-des-allmaehlichen-verschwindens.html

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