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Essay: Risiko statt Routine – Mutiger werden

Risiko statt Routine – Mutiger werden

… oder raus aus der Behaglichkeit, rein in die Gefahr

„Da bekommt jemand ein wahnsinnig gutes Jobangebot, schlägt es aus, weil er es sich nicht zutraute. Und dann sitzt eine totale Gurke auf den Posten und bekommt viel Geld für schlechte Arbeit.“ „Da wird jemand seit zwei Jahren von einer Kollegin terrorisiert. Diese denkt, weil sie älter und erfahrener ist, kann sie die andere wie eine Praktikantin behandeln. Und jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit schwört sie sich hoch und heilig, der werde ich es heute zeigen, und wenn sie mir doof kommt, kontere ich so, dass ihr die Spucke wegbleibt. Doch jedes verdammte Mal macht sie mich so klein, dass ich kusche und mich unterwerfe. Ich hasse mich dafür!!!“ „Da fragt eine umwerfend aussehende Frau nach dem Weg und lächelt einen dabei die ganze Zeit voll süß an. Und wir trauen uns trotzdem nicht, zu fragen, ob sie vielleicht Lust hätte, einen Kaffee mit uns trinken zu gehen.“ „Oder da stehen wir in einer langen Schlange vor irgendeinem Schalter oder an der Einkaufstheke. Schon seit zwanzig Minuten. Da drängelt sich doch wahrhaftig ein unverschämter Jungdynamiker nach vorne unter dem Satz „Ich hab`s besonders eilig:“ Alle schütteln den Kopf. Keiner sagt etwas.“ „Da sitzen wir mit Freunden abends in der Kneipe und amüsieren uns über einen Mann an der Bar, da er offensichtlich betrunken ist und sich kaum auf seinem Hocker halten kann. Nach dem Bezahlen greift er zu seinem Autoschlüssel und wankt in Richtung Tür. Keiner sagt was. Keiner nimmt ihm den Schlüssel weg. Wir lassen ihn einfach so in sein Schicksal hinfahren.“

Ärger über uns selbst, hämische Kollegen, verpasste Chancen, ein schlechtes Gewissen. All das bliebe uns erspart, wenn uns der Mut nicht so oft verlassen würde.

Ab morgen wird alles anders! Wer von uns kennt ihn nicht, diesen Vorsatz, mit dem wir uns Mut machen und uns das eine oder andere vornehmen. Zum Beispiel: Ab morgen mache ich reinen Tisch! Morgen sage ich meinen Kollegen im Büro einmal frisch von der Leber weg, was mich bei unserer Teamarbeit stört! Und wenn ich dieses Risiko schon auf mich nehme, dann springe ich auch gleich vom 10-Meter-Turm ins Schwimmbecken. Das wollte ich schon lange tun. Herzrasen hin oder her!

Denn sobald es so weit ist, lässt uns der Mut nur allzu schnell im Stich, und wir bekommen kalte Füße. Warum? Weil die Angst eben doch größer war, als man dachte. Also krebst man zurück, bis zum nächsten Anlauf. Oder tröstet sich mit einer Ausrede über die Mutlosigkeit hinweg.

Habe ich in meinem Leben wirklich erreicht, was ich wollte, fragen wir uns. Sollten wir nicht mutiger sein und weniger Kompromisse eingehen? Haben wir Angst, aus der Reihe zu tanzen, und am Ende alleine dazustehen? Ist es das, was uns bremst? Und allmählich dämmert uns, dass wir erst dann wieder wirklich zufrieden sein können, wenn wir den Mut fassen, etwas zu ändern, und über unseren eigenen Schatten springen. Courage ist lernbar – und Träume möchten verwirklicht werden. Wer kreativ sein will, braucht Mut. Aber auch im Leben braucht man oft Mut. Dumm nur, dass man Mut nicht im Supermarkt kaufen kann. 😉 Im Gegenteil, es ist gar nicht so leicht, gegen seine Ängste und Bedenken anzugehen. Doch es ist nicht unmöglich.

Kleine Schritte wagen. Wie jede Tugend erfordert Mut fortgesetztes Üben: In Familie und Freundeskreis, der Schule, am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit. Mit kleinen Mutproben beginnen: Sich mit der eigenen Meinung erkennen lassen, für die persönliche Überzeugung stehen, Einspruch erheben, wenn Unrecht geschieht. – Kleine Schritte verhindern, dass wir uns überfordern. Wir sollten unser persönliches Maß an Mut herausfinden und die Gegenkräfte zur Angst stärken.

Angst ist eine Kraft. Mutig handeln bedeutet nicht, furchtlos zu sein. Nur wer seine Ängste zulässt, kann Mut entwickeln, sich mit der Angst einmischen und für gesellschaftliche Veränderungen eintreten. Angst verweist uns auf die Gefahr, der wir begegnen, und vor der wir uns schützen müssen. Deshalb ist es wichtig, angstfähig zu sein.

Sachkenntnis macht mitsprachefähig. Wer sachkundig ist, kann argumentieren und stärkt sein Selbstbewusstsein. Fachliche Kompetenz ist eine Gegenkraft zur Angst und eine Voraussetzung dafür, soziale Anliegen durchzusetzen. Wir brauchen Sachkenntnis dort, wo wir von gesellschaftlichen Zuständen betroffen sind, an denen wir etwas verändern möchten.

Zusammenarbeit vermindert die Furcht. Wer öffentlich widerspricht, kann von der Mehrheit isoliert werden. Deshalb ist es hilfreich, sich mit Gleichgesinnten zu solidarisieren. Die Zugehörigkeit erleichtert es, für demokratische Grundwerte einzutreten. Der Zusammenhalt in der Gruppe richtet sich nicht gegen „Feinde”, sondern dient menschlichen Grundwerten, tritt für das Gute ein. Durch Kooperation wächst das Sachverständnis.

Sich mit Wertvorstellungen kenntlich machen. Erkennen lassen, wie wir denken, für welche Werte wir uns einsetzen, statt anderen unsere Meinung aufzwingen zu wollen. Wir vertreten glaubwürdig die eigene Überzeugung und versuchen gleichzeitig, Andersdenkende zu verstehen. Dadurch gelingt es, Überzeugungs-Machtkämpfe zu vermeiden und sich zu verständigen.

Ob man den Mut in kleinen Schritten probt oder zum großen Befreiungsschlag ausholt, ist eine Frage des Temperaments. Wer aber einmal über seinen eigenen Schatten gesprungen ist und ein Erfolgserlebnis hatte, dem fällt das nächste Wagnis leichter. Denn mit jeder positiven Erfahrung fassen wir zusätzlichen Mut.

„Mehr als Nein sagen kann er nicht.“ – „Das Nein habe ich schon. Wenn ich nichts mache, bleibt es beim Nein. Nun mache ich mich auf den Weg, um mir ein Ja, oder wenigstens ein Vielleicht zu holen.“ – „Die meisten Dinge kosten nicht das Leben, sondern nur Einsatz und Mühe.“

Bringen Sie etwas mehr Übermut in Ihr Leben. Mit jeder übermütigen Bemerkung oder Aktion verlassen Sie das Territorium der Bedrohung. In der Zeit des Übermuts sind Sie immun gegenüber jedem Bedrohungsgefühl. Die Insel des Übermutes ist weit entfernt vom Festland der Besorgtheit und Gefährdung.

Richard I. von England war ein sehr berühmter König. Er zählte zu den mächtigsten Herrschern Europas im 12. Jahrhundert. Heute ist er uns vor allen Dingen wegen seines Beinamens im Gedächtnis, der da lautet: Löwenherz. Angeblich war er ein sehr tapferer Kriegsführer und Kämpfer, was zu dieser Namensgebung betrug. Das Herz eines Löwen, dieses edlen Tieres, das bei uns vor allen Dingen mit einer Eigenschaft assoziiert wird: Mut. In welchen Situationen wünschen wir uns ein Löwenherz?

Oder ist unser Bedürfnis nach Sicherheit so stark, dass wir zum „lieber behalten“ als zum „Loslassen“ neigen? Es stimmt, wer Positionen vertritt, wird angreifbar. Aber wer keine vertritt, wird nicht wahrgenommen.

„Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.“ Das wusste schon Seneca vor 2000 Jahren.

Ja, manchmal brauchen wir wirklich eine gehörige Portion Mut im Leben. Denn wir werden stets belohnt, wenn wir es nur wagen. Auch wenn das Ergebnis nicht genau das ist, das wir uns gewünscht haben, so ist doch eines sicher: Die Ungewissheit, die gefühlte Feigheit, die Unsicherheit, sie sind weg, denn wir haben es gewagt, wir haben es getan. Und wir haben es, einmal mehr, überlebt.

 

Essay: Markige Worte und magere Taten

Markige Worte und magere Taten

… oder warum wir lieber reden als handeln.

Telling isn’t selling – Reden ist nicht verkaufen – mit diesem Werbespruch einer Werbeagentur aus den 70er Jahren ist das Thema kurz und knapp umrissen,

Und das gilt besonders für die Deutschen. Deutschland liegt in puncto Einstellungen tatsächlich in der europäischen Spitzengruppe, aber in puncto Handeln sieht es weit weniger positiv aus.

Wir haben laut Gesetz viele Freiheiten, allerdings sind wir in wesentlichen Bereichen eingeschränkt. So darf man Kritik äußern, sich aber nicht entsprechend seiner Kritik verhalten. So lautet die wohl entscheidende Zeile aus dem Lied “Freiheit” von Holger Burner: “Kritik wollen sie nicht praktisch, nur gedacht oder geschrieben!”

„Wir“ ist nicht „Ich“. Es scheint ein großer Unterschied zwischen dem „Wir“ und dem „Ich“ zu sein. So ist die große Mehrheit zwar der Meinung „Wir Bürger müssen mehr für den Klimaschutz tun“ oder „Wir können durch unser Kaufverhalten viel bewegen“ doch praktisch tun dies nur relativ wenige. Offenbar schließt das „Wir“ die eigene Person nicht ein.

Reden ist einfacher als handeln. Faktisch handeln viel zu Wenige und das auch nur auf mehr oder weniger symbolische Weise, indem die eine oder andere Handlung gelegentlich praktiziert wird. Zwischen der allgemein bekundeten Bereitschaft und dem Routinehandeln im Alltag klafft eine gewaltige Lücke.

Alle reden über das „Was“, kaum jemand über das „Wie“

Alle reden über die Zukunft, zum Beispiel was dann zu tun wäre, kaum jemand von der Gegenwart. Ich werde … (später aber nicht jetzt, weil …)

Alle reden über die Bildung. Merkel hat dieses markige Wort geprägt: „Bildungsrepublik Deutschland“. Und was geschieht?? Wenig bis gar nichts.

Alle reden über die Umwelt, die Erderwärmung, den Klimawandel. Und was geschieht? Kaum jemand fährt langsamer oder dreht seine Heizung um 3° zurück. Obwohl das die einfachsten Wege zum Energiesparen wären.

Alle reden über die Wirtschaftskrise, Schuldenkrise, Eurokrise. Und was geschieht? Es kommen neue Ankündigungen mit noch markigeren Worten. Z. B. fordert Klassensprecher Rößler einen „europäischen Stabilitätsrat“ und ergänzt „Wir brauchen einen neuen Stabilitätspakt für den Euro“. Wo bleibt das „Wie“?

„Märkte steigen und Märkte fallen, aber das hier sind die Vereinigten Staaten von Amerika“, sagte Obama. „Egal was eine Agentur sagen mag, wir waren immer ein AAA-Land und werden es auch immer sein.“ Und in der gleichen Rede beklagte Obama „Das Problem sei der politische Stillstand in Washington.“ Und wer hat diesen Stillstand zu verantworten? Er und seine Kollegen.

Alle reden von der Chancengleichheit von Männern und Frauen als Grundsatz von Gesellschaft und Politik. 1999 erhob die Bundesregierung die Gleichstellung unter dem ebenso markigen wie glatten und nichtssagendem Begriff „Gender Mainstreaming“ zum Leitprinzip ihrer Politik. Die schlechten Ergebnisse der PISA-Studie, der Rückgang der Geburtenzahlen und der Wahlkampf haben die Ganztagsbetreuung erneut zur Chefsache gemacht. Trotzdem: Passiert ist bislang wenig.

Alle Parteien und gesellschaftliche Gruppierungen halten die schöne Fata Morgana aufrecht, jeder könne den Aufstieg schaffen. Aber in Wahrheit haben wir in Wirtschaft und Politik eine geschlossene Gesellschaft.

Aber verlassen wir das Feld der großen Politik und gehen in unser kleines Leben hinein. Glauben Sie, dort wäre es anders?

Wir haben immer mehr neue „Erfolgsdiäten.“ Amazon verzeichnet zum Thema Diät 24.301 Bücher. Gleichzeitig sind immer mehr Deutsche krankhaft dick. Und ständig werden es mehr. Der Anteil fettleibiger Männer sei von zwölf Prozent im Jahr 1999 auf sechzehn Prozent in den Jahren 2009/2010 gestiegen, berichtet die Bundesregierung. Der Anteil krankhaft dicker Frauen wuchs im selben Zeitraum von elf auf fünfzehn Prozent.

Wir haben unendlich viele Kochshows im deutschen Fernsehen. Lange Sendungen über „Wie Deutschland isst“ und gesundes Ernähren. Zur gleichen Zeit steigt die Nachfrage nach Salat aus der Tüte, nach Gemüsesuppe zum Anrühren, nach Komplettmahlzeiten in der Aluschale – das Angebot an Fertigprodukten ist riesig.

Viele Menschen haben Wünsche und Erwartungen. Die Wenigsten werden verwirklicht. Warum?

Der Hauptgrund ist wohl, dass diese Menschen nicht zwischen Wunsch und Wirklichkeit trennen können. Wie kompliziert, und wie erfolglos ihr Leben dadurch bleibt, hängt in hohem Maße davon ab, ob sie sich hartnäckig illusionären Wunschvorstellungen hingeben, statt sich und die Welt so zu sehen, wie sie wirklich sind.

Hüten Sie sich davor, Wunschdenken und Wirklichkeit miteinander zu verwechseln. Haben Sie niemals soviel Angst vor der Wahrheit, dass Sie sich weigern, sie anzuerkennen. Wunschdenker begnügen sich mit Forderungen (an andere) und mit Absichtserklärungen.

Wir reden über Absichten, über Strategien, über Maßnahmen, aber seltener über Ergebnisse. Wäre ja auch peinlich, wenn wir Ergebnisse anstrebten und dann zugeben müssten, sie nicht erreicht zu haben. Dann müssten wir ja über unsere eigene Inkonsequenz reden und Fehler einräumen.

Oft werden Ziele nicht erreicht, weil sie: Einfach zu unrealistisch sind, weil sie nicht detailliert genug sind und weil sie unkontrollierbar weit in der Zukunft liegen.

Und wer ist schuld? Natürlich die anderen.

Das alles ist nichts Neues. Schon vor über 2000 Jahren soll sich in Galiläa Folgendes abgespielt haben:

„Als Jesus weitergehen wollte, lief ein Mann auf ihn zu, warf sich vor ihm auf die Knie und fragte: „Guter Lehrer, was muss ich tun, um das ewige Leben zu bekommen?“  Jesus entgegnete: „Weshalb nennst du mich gut? Es gibt nur einen, der gut ist, und das ist Gott. Du kennst doch seine Gebote: Du sollst nicht töten! Du sollst nicht die Ehe brechen! Du sollst nicht stehlen! Sag nichts Unwahres über deinen Mitmenschen! Du sollst nicht betrügen! Ehre deinen Vater und deine Mutter!“ „Lehrer“, antwortete der junge Mann, „an diese Gebote habe ich mich von Jugend an gehalten.“ Jesus sah ihn voller Liebe an: „Etwas fehlt dir noch: Verkaufe alles, was du hast, und gib das Geld den Armen. Damit wirst du im Himmel einen Reichtum gewinnen, der niemals verloren geht. Und dann komm und folge mir nach!“ Über diese Forderung war der Mann tief betroffen. Traurig ging er weg, denn er war sehr reich.“

Der einzige Beweis für das Können ist das Tun. (Marie von Ebner-Eschenbach)

Fangen Sie an.

 

Essay: Die Angst ist ein Meister aus Deutschland

Die Angst ist ein Meister aus Deutschland
… oder warum das Glas bei uns immer halb leer ist
Früher hatten viele „Angst vor Deutschland“. Heute haben wir „Angst in Deutschland“. Verzagtheit eine typisch deutsche Eigenschaft? Die Deutschen haben Angst, vor allem Angst vor der Zukunft. Aber nicht nur:
Sie haben Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, Angst vor der Technik, Angst und Unsicherheit, was sie noch essen dürfen. Angst vor dem Alter, Angst vor Krieg und der Klimawandel, Angst vor Pickeln und Nagelpilz, Angst davor ihr Geld zu verlieren, Angst vor Falten und Allergien, Angst vor zu viel Sonnenschein, Angst vor Radioaktivität, die so groß wurde, dass in diesem Frühjahr Geigerzähler ausverkauft waren. Angst vor Hochwasser und Angst vor Terroranschlägen. Angst vor dem Islam und Angst vor dem Papst. Angst vor steigenden Preisen und davor, im Alter ein Pflegefall zu werden. Angst vor Überfremdung, Angst vor Extremisten, Angst vor gepanschtem Essen. Angst vor Viren und Angst vor der Steuer. Und neu natürlich Angst vor Europa, vor dem Euro und vor Brüssel. Die Regierung hat Angst vor den Wählern und die Industrie hat Angst vor steigenden Kosten. Und natürlich die deutsche Urangst ums Geld.
Angst ist zunächst mal ein ganz normaler Zustand. Es gibt niemanden, der nicht auch mal Angst hat.
Angst vor Dingen und Orten ist leicht zu erkennen. Sie reicht von Angst vor Hunden über Angst vor geschlossenen Räumen bis hin zu Angst vor Krankheiten. Diese Gruppe von Ängsten wird Phobie genannt.
Soziale Ängste sind weniger leicht zu erkennen. Angst vor Zurückweisung, Angst vor Versagen oder auch Angst vor Misserfolg gehören in diese Gruppe. Sie zu erkennen ist deshalb besonders schwer, weil der Betreffende es immer wieder versteht, den Angstsituationen geschickt auszuweichen. Oder er hat sie rationalisiert, indem er in erster Linie das Fünkchen Wahrheit registriert, aber nicht seine überzogene Reaktion darauf.
Dann gibt es noch Angst vor der Angst. Hier ängstigt sich der Mensch vor einem Gefühl oder einem Gedanken. Diese Angst steigert sich, da er den eigenen Gefühlen und Gedanken nur schwer entfliehen kann. Zwanghaftes Handeln oder übertriebene Vermeidungsreaktionen können die Folge sein.
Die heimtückischste Angst ist die, die jemand vor sich selbst hat. Die Angst vor der eigenen Persönlichkeit ist schwierig zu durchschauen und deshalb auch schwer zu bekämpfen. Denn Angst vor sich selbst ist eigentlich Versagensangst aufgrund von Minderwertigkeitsgefühlen.
Jetzt reagiert jeder anders auf Angst. Da gibt es den Drückeberger, der der Angstsituation ausweicht. Oft gibt er sie nicht offen zu, sondern schlägt „bessere Alternativen“ vor. Oder der Ausreißer: Er setzt sich der Angstsituation zwar aus, sucht aber wieder herauszukommen, bevor die Angst nachlässt. Der Kopflose setzt sich Angstsituationen aus und konzentriert sich so sehr auf seine Angstgefühle, dass er nicht mehr vernünftig reagieren kann. Und es gibt natürlich auch den Schwarzseher: Er denkt an drohende Gefahren, konzentriert seine Gedanken auf das Schlimmste und verrennt sich darin.
Angst haben wir weitgehend Angst erlernt. Entweder durch ein schlimmes Erlebnis oder durch eine Vielzahl weniger tiefgehender Erlebnisse der gleichen Art. Oder wir haben es von Vorbildern gelernt: entweder von Menschen, die wir in Angstsituationen erlebt haben oder andere haben uns durch ständiges Warnen Angstgefühle beigebracht. Gefühlsmäßige Reaktionen wie Angst beschränken sich nicht auf die eine Situation, in der wir sie erlernt haben. Sie überträgt sich auch auf andere Situationen. Auch unsere Angst ist erlernt. Wir können sie demnach jederzeit wieder verlernen. Das können wir umso leichter je besser wir die Ursachen unserer Angst kennen.
An erster Stelle scheint mir das Besitzdenken zu stehen. Jede Veränderung birgt die Gefahr, dass wir unseren Besitz wieder verlieren könnten.
Unwissenheit ist eine weitere Angstquelle. Jetzt leben wir zwar in einer der bestinformierten Gesellschaften, aber diese Welt ist komplexer, undurchschaubarer geworden und viele verstehen weder das Problem noch die Lösungen. Und eine Unzahl selbst ernannter Experten liefert uns immer neue Lösungen. Und die Orientierungsschwäche unserer Politiker verschärft noch die Situation.
Wer schwierige Herausforderungen meistern will, braucht ein hohes Selbstwertgefühl. Wer durch ständiges Bedenken und Kritisieren vernünftiges Handeln verhindert, zerstört das Selbstwertgefühl und damit auch Lösungen für die Zukunft.
Das Nachdenken über den Sinn der eigenen Existenz verunsichert viele. Sollen wir Kinder in die Welt setzten? Ist das Älterwerden jetzt ein Segen oder eher doch ein Fluch?
Gut, wir Deutsche haben Untergangserfahrung. Inflation und Weltkriege haben das deutsche Selbstbewusstsein schwinden lassen. Die Lücke wurde durch Unsicherheit und Angst gefüllt, und niemand tat etwas, um dem entgegenzuwirken.
Eine der Hauptursachen für die deutsche Angst liegt im deutschen Wahn alles zu reglementieren, festzuschreiben und zu zementieren. Das hat uns in weiten Bereichen handlungsunfähig werden lassen. Und wer sich eingesperrt fühlt oder für jeden Fehler sofort bestraft werden kann, muss ängstlich werden. Wir haben zu viel auf Sicherheit und zu wenige auf Freiheit und Unabhängigkeit gesetzt. Sicherheit geht immer auf Kosten der Freiheit.
Die zweite Hauptursache scheint mir in unseren Medien zu liegen. Jeder noch so kleine, belanglose Furz wird von diesen zur Katastrophe, zur Tragödie, zum Debakel aufgeblasen. Die Medien beschwören immer neue Untergangsszenarien: Seien es Lebensmittelskandale, Asche speiende Vulkane, Grippeviren oder an sich harmlose Dinge wie angekündigte Wetterkapriolen von großer Hitze bis zu Starkschneefällen. Und die Politik liefert ausreichendes Material mit Antiterrorgesetzen, Vorratsdatenspeicherungen und mit immer neuen Reglementierungen. So treiben sich beide Ursachen gegenseitig an und bedienen die „Vollkaskomentalität“, die besonders uns Deutschen gerne nachgesagt wird.
Doch wie sagt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: „Damit wurde nur einem gefühlten Bedrohungs-Szenario Nahrung gegeben. Die Spirale aus Sicherheitsgesetzen und Symbolpolitik drehte sich immer schneller“.
Fallen die Ursachen weg, so geht auch die Angst zurück. Wir brauchen ein neues Selbstbewusstsein und vor allem wieder mehr Freiheit. Nur Freiheit schützt vor Angst. Und natürlich unsere eigene Sichtweise der Dinge: Das Glas – ist es halb voll oder halb leer?

Rezension: Der Optiker von Lampedusa – Emma Jane Kirby – Berlin Verlag

Eine Ode an die Menschlichkeit

Der Optiker von Lampedusa: Die Geschichte einer Rettung – Emma Jane Kirby (Autorin), Paulina Abzieher (Übersetzerin), Hans-Christian Oeser (Übersetzer), 160 Seiten, Berlin Verlag (3. April 2017), 16 €, ISBN-13: 978-3827013460

Oktober bei Lampedusa an einem sonnigen Morgen. Auf See wacht der Optiker in der Morgendämmerung auf. Das Meer ist schön, die Sonne scheint, er ist glücklich. Für einen Moment hat er all seine Sorgen vergessen. Er genießt die Ruhe, die nur von Möwenschreien unterbrochen wird. Ungewöhnlich schrill, fast übernatürlich. Nein, das sind keine Vögel. Das sind Schreie der Angst, der Verzweiflung, des Schmerzens.

Der Optiker von Lampedusa ist ein ganz normaler Mensch, fleißig, ruhig, gewissenhaft. Mit seiner Frau Teresa lebt er auf dieser einzigartige Insel. Sie mögen gegrillte Sardinen, Aperitifs auf der Terrasse und Bootsfahrten auf den ruhigen Gewässern um ihr kleines Inselparadies. Er sieht aus wie wir. Er ist gewissenhaft, sorgt sich um die Zukunft seiner beiden Söhne und kümmert sich um das Überleben seines kleinen Unternehmens.

Er ist kein Held. Und seine Geschichte ist kein Märchen, sondern eine Tragödie: die Entdeckung von Männern, Frauen und Kinder, die im Wasser um ihr Überleben kämpfen. Gesichter, die von den Wellen gefangen sind. „Noch nie hatte ich soviele Menschen im Wasser gesehen. Strampelnde Gliedmaßen, ausgestreckte Hände, schlagende Fäuste, schwarze Gesichter, die erst über, dann unter den Wellen aufblitzten. Schnaufen, Geschrei, Prusten, Gebrüll. Mein Gott, dieses Gebrüll.“ (Seite 7) und nur weil sie aus ihren Länder gefohen sind vor Verfolgung und Tyrannei.

Der Optiker von Lampedusa erzählt die Geschichte von einem, der nicht sehen will.  „Ich wollte Ihnen diese Geschichte nie erzählen. Ich hatte mir geschworen, diese Geschichte nie wieder zu erzählen, weil sie kein Märchen ist.“ (Seite 9) Und nun befindet sich dieser Anti-Held plötzlich in einer Situation, die alles andere als normal ist. Was als gemütliche, ruhige Bootsfahrt mit Freunden begonnen hat, endet damit, dass sie in ihrem kleinen Boot 47 Flüchtlinge gerettet haben.

Eine wahre Geschichte, die die Journalistin Emma-Jane Kirby meisterlich erzählt, ganz nahe an der Realität, hell und prägnant.

Der Optiker von Lampedusa? Das bin ich, das bist du. Ein kleines, ruhiges Leben, mit wenigen Sorgen. Die menschlichen Dramen der Flüchtlinge kennen wir nur aus Fernsehen, aus der Morgenzeitung. Bilder, die uns wenig beeindrucken. Dieses Buch hilft, unsere Augen und Herzen zu öffnen, weil hinter den Zahlen es Menschen aus Fleisch und Blut gibt, die vor der Armut, der Diktatur und dem Krieg geflohen sind.

Das kurze Buch werden Sie in einem Rutsch lesen. Danach werden Sie nicht mehr gleichgültig sein.

Hier geht es direkt zum Buch auf der Seite des Berlin Verlages

https://www.piper.de/buecher/der-optiker-von-lampedusa-isbn-978-3-8270-1346-0

Fragen Sie in Ihrer örtlichen Buchhandlung nach diesem Buch. Wenn Sie in meiner Gegend „Landkreis Merzig-Wadern“ leben, dann wenden Sie sich an die Rote Zora: http://www.rotezora.de

Rezension: So war Auschwitz – Primo Levi – Hanser Verlag

Ein Ort, wohin man nur ging, um zu verschwinden.

So war Auschwitz: Zeugnisse 1945-1986. – Fabio Levi (Herausgeber), Domenico Scarpa (Herausgeber), Primo Levi (Autor), & 1 mehr, 304 Seiten, Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG (13. März 2017), 24 €, ISBN-13: 978-3446254497

Die letzten Zeitzeugen des Holocausts sterben so langsam weg. Umso wichtiger scheint es mir die Originalberichte zu lesen, die kurz nach dem Grauen verfasst wurden.

Zu dieser Gruppe gehört Primo Levi, geboren 1919 und gestorben 1987 in Turin durch einen Sturz in den Treppenschacht seines Wohnhauses.  Obwohl ein definitiver Beweis fehlt, wird heute allgemein angenommen, dass es ein Freitod war. Vielleicht hat ihn die eigene Scham, überlebt zu haben, doch noch eingeholt.

Er wuchs in einer liberalen jüdischen Familie auf. Er war Chemiker und Schriftsteller. Levi verbrachte als Zwangsarbeiter elf Monate in Auschwitz-Monowitz bis zur Befreiung durch die Rote Armee. Da er als Chemiker in den Buna-Werken eingesetzt war, konnte er den schlimmsten Arbeitsbedingungen im Winter 1944/45 entgehen.

Jetzt haben Fabio Levi und Domenico Scarpa zum Teil unveröffentlichte, erst jetzt entdeckte oder wiedergefundene Zeugnisse von Primo Levi und Leonardo De Benedetti von 1945 bis 1986 herausgegeben: Berichte über die hygienisch-medizinische Organisation in Monowitz, Erklärungen und Aussagen für den Prozess Höß, Aussagen für die Anklage gegen Dr. Josef Mengele, Aussagen für den Prozess Eichmann, Erklärungen und Aussagen für den Prozess Boßhammer, direkter Mitarbeiter von Eichmann: insgesamt Aussagen, Erklärungen, Fragebögen, Briefe, Zeitungsartikel, in chronologischer Reihenfolge zwischen 1945 und 1986.

„So war Auschwitz“ ist eine Sammlung von Schriften, meist nicht veröffentlicht: Es ist nicht als einfacher Hintergrund eines endgültigen Buchs zu sehen, sondern als ein neues Werk in der Tat innovativ und unabhängig. Levi ist als einer der Wenigen in der Lage, die Fakten zu Auschwitz über vierzig Jahre lang zu untersuchen.

Levi neigt dazu, das Phänomen des Vernichtungslagers im Wesentlichen als einzigartig zu betrachten, zumindest so weit wie es sich durch die Art der Organisation der Fabriken des Todes, von anderen Lagern und anderen allgemeinen Monstern des Totalitarismus unterscheidet.

Levi ist nicht nur ein Analyst von Auschwitz, war nicht nur ein Zeuge, sondern übernahm auch die Rolle des Forschers. Das zeigt sich für mich vor allem auch in seiner neutralen, leidenschaftslosen Sprache, die das Grauen noch deutlicher macht.

Es ist nicht nur ein Buch von Historikern für Historiker, sondern darüber hinaus ein Wegweiser für ein vertiefendes Nachdenken über diese Zeit.

Hier geht es direkt zum Buch auf der Seite des Hanser Verlages

https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/so-war-auschwitz/978-3-446-25449-7/

Fragen Sie in Ihrer örtlichen Buchhandlung nach diesem Buch. Wenn Sie in meiner Gegend „Landkreis Merzig-Wadern“ leben, dann wenden Sie sich an die Rote Zora: http://www.rotezora.de

Rezension: Freedom Hospital – Hamid Sulaiman – Hanser Verlag

 

Schockierend, bewegend, düster und optimistisch

Freedom Hospital – Hamid Sulaiman (Autor), Kai Pfeiffer (Übersetzer), 288 Seiten, Verlag: Hanser Berlin (30. Januar 2017), 24 €, ISBN-13: 978-3446255081

Sulaiman, 1986 in Damaskus geboren, hat mit „Freedom Hospital“ ein beeindruckendes Panorama des Konfliktes vorgelegt, der sein Heimatland seit nunmehr fünf Jahren zerreißt. Als im Frühjahr 2011 die Proteste gegen das Assad-Regime ausbrachen, war er von Beginn an dabei. Der junge Künstler, der in Damaskus Architektur studierte und im Begriff war, sich als Maler, Illustrator und Performance-Artist einen Namen zu machen, stammt aus Zabadani, einem Stadtteil in Damaskus, der nicht als Assad-Fanhochburg gilt. Anfang 2011 hatte er einige Bilder gegen die Folter gemalt, die in Assads Gefängnissen an der Tagesordnung ist. Das Regime antwortet prompt – und ließ ihn verhaften. Eine Woche lang steckte man Sulaiman ins Gefängnis. Es war eine deutliche Warnung. Und so entschloss sich Sulaiman nach der Entlassung aus der Haft, sein Land zu verlassen.

Sulaimans Geschichte konzentriert sich auf eine kleine, illegale Klinik im ländlichen Syrien „Freedom Hospital“, das von einem Friedensaktivisten namens Yasmine in einer unbenannten syrischen Stadt gegründet wurde. Zusätzlich zu Yasmine gibt es zehn weitere Charaktere, die im Krankenhaus leben, sowohl die Kranken als auch ihre Betreuer, die verschiedene Segmente der syrischen Gesellschaft widerspiegeln: ein Kurde, ein Alawit, ein französisch-syrischer Journalist, Mitglieder der Freien syrischen Arme, Salafisten und muslimische Brüder, junge Revolutionäre, westliche Aktivisten und sowohl Gegner wie Unterstützer von Assad treffen sich alle im Krankenhaus und eröffnen Raum für den Spiegel des syrischen Konflikts.

Die Zeichnungen scheinen auf den ersten Blick etwas grob und schlicht zu wirken. Doch man sollte sich einfach auf dieses Buch einlassen und die Zeichnungen auf sich wirken lassen. Die Kontraste sind stark, Grautöne existieren nicht. Wir werden konfrontiert mit scharf-konturierten, dynamischen Schwarz-Weiß-Tusche-Zeichnungen von abgetrennten Gliedmaßen, furchterfüllten Gesichtern, Artilleriegeschützen auf Toyota-Pick-up-Trucks, Luftbildern zerstörter Häuserblocks von Menschenmengen, die die Freiheit fordern und dafür niederkartätscht oder mit Fassbomben beworfen werden. Dazwischen immer wieder Menschen, die anderen helfen, sie pflegen und verarzten. Und von Menschen, die versuchen, ihren Alltag auch im Schatten des Krieges zu leben. Die sich im Dunkeln einfach weiter lieben. So entsteht eine eigenwillige, düstere Bildsprache und die Comic-Radikalität untermauert den grausam-realen Inhalt

„Ich habe dieses Buch geschrieben, um die Situation aus meiner Sicht darzustellen, nicht um sie zu erklären.“ So sagt Hamid Sulaiman. Er zeigt einfach das Leben in seinen Gegensätzen und den Krieg in seinem Wahnsinn.

Sulaimans Zeichnungen sind ein Gleichnis über die Normalität des Abnormalen. Unbedingt lesen und sich damit auseinandersetzen: Fünf Jahre Bürgerkrieg in Comics komprimiert, die Gewalt, die Unruhen, die Katastrophen und das ewige Prinzip der Hoffnung.

 Hier geht es direkt zum Buch auf der Seite des Hanser Verlages

https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/freedom-hospital/978-3-446-25508-1/

Fragen Sie in Ihrer örtlichen Buchhandlung nach diesem Buch. Wenn Sie in meiner Gegend „Landkreis Merzig-Wadern“ leben, dann wenden Sie sich an die Rote Zora: http://www.rotezora.de

 

Rezension: Verfahren eingestellt – Claudio Magris – Carl Hanser Verlag

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf

Verfahren eingestellt – Claudio Magris (Autor), Ragni Maria Gschwend (Übersetzer), 400 Seiten, Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG (13. März 2017), 25 €, ISBN-13: 978-3446254664

Ein großes Buch. Claudio Magris erzählt von der Besessenheit eines Mannes, der seit Jahrzehnten Waffen, Gewehre, Maschinengewehre, Kanonen, Flugzeugen und Militäruniformen sammelt. Dieser Mann, ein Professor, hat wirklich existiert, lebte in den Räumen inmitten seiner gesammelten „Kriegsgegenstände“. Er schlief dort in einem Sarg und starb 1974 bei einem mysteriösen Feuer.

Schauplatz ist Triest. Nicht nur weil der Autor dort geboren wurde und lebte, sondern weil Triest Kulturen und Ethnien auf fatale Weise mischte und auch weil in Triest, das einzige KZ Italiens angesiedelt war, das KZ Risiera (ehemalige Reismühle) im Triester Ortsteil San Sabba. Vor allem macht ihn, diesen Professor etwas für die lokale Gesellschaft gefährlich: er hat in diesem KZ Namen abgeschrieben, die Häftlinge in die bald nach Kriegsende geweißten Zellenwände geritzt hatten – Namen von Vertretern der „guten“ Triestiner Gesellschaft, die im KZ ein und aus gingen, um Geschäfte mit den Deutschen und deren Helfern zu machen. Nach dem Krieg wirtschafteten sie unbehelligt weiter: Die Verfahren gegen die Täter und deren Unterstützer wurden eingestellt.

Der Roman hat zwei Protagonisten: einmal dieser Unbenannte, dieser schon fast peinliche Freak, dieser Erzengel der Gerechtigkeit und der Rache. Dann Luisa, der faszinierende Kontrapunkt. Es ist die junge Frau, die den Auftrag hat, das Projekt des Museums, des größten Museums über das Unrecht des Krieges zu entwickeln. Auch ihre Geschichte ist von weltumspannender Gewalt geprägt: Die Mutter eine Jüdin, die die Verfolgung überlebt hat, der Vater ein afroamerikanischer Schwarzer: „Menschenhandel und Shoah“ vereinen sich in Luisas Genealogie, die exemplarisch ist für Magris‘ Roman, der in assoziativen Schwüngen und novellenartigen Einschüben die These illustriert, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist.

Das Buch ist einzigartig in seiner Struktur, die ohne Vorbild ist, und es erweckt ständig den Wunsch, am Ende jeder Seite wissen zu wollen, was auf der nächsten Seite passiert. Ein großer Baum mit vielen Verästelungen, eine Art Matrjoschka der Wunder und Bosheiten. In ihrem Bauch, enthüllen sich unzählige Romane, Kurzgeschichten, Geschichten, Erzählungen und Rinnsale. Es ist ein epischer, politischer, religiöser und poetischer Roman, voll von Qual und Schmerz, voll von den Abenteuern des Todes.

Claudio Magris ist ein großer Denker und begnadeter Essayist. Ideenreichtum und Klarheit des Denkens verbinden sich bei ihm mit seinem Hang zur Metaphorik, zu einem fast barock anmutendem Schreibstil. Es entsteht ein Werk, düster wie eine Feuersbrunst.

Die Lektüre ist nicht einfach, vielleicht sogar anstrengend. Und gerade deswegen ist es hohe Literatur, die uns dieser selbstbezügliche Roman bietet.

Hier geht es direkt zum Buch auf der Seite des Hanser Verlages

https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/verfahren-eingestellt/978-3-446-25466-4/

Fragen Sie in Ihrer örtlichen Buchhandlung nach diesem Buch. Wenn Sie in meiner Gegend „Landkreis Merzig-Wadern“ leben, dann wenden Sie sich an die Rote Zora: http://www.rotezora.de

Essay: Totalitär oder liberal!?

Die Totalitären haben die längeren Schießeisen

… und welche Alternativen haben wir?

Glück, Gesundheit, Wohlstand, Arbeitsplätze, gute Rente, kostenlose Bildung, Sicherheit, Freiheit, gutes Leben … unsere Erwartungen an den Staat sind hoch, oft voller Widersprüche und unrealistisch. Trotzdem werden sie von vielen Politikern versprochen und in ihre Programme eingebunden. Und zu diesen Programmen gebe es keine Alternativen.

Machthaber im Allgemeinen werden sich hüten, genau zu definieren, was alles als alternativ angesehen werden könnte. Denn das würde ja bedeuten, dass sie Ratschläge zu ihrer eigenen Abwahl und damit Ablösung erteilen würden. Also wird man von offizieller Seite niemals hingehen und sogenannte Alternativen zu benennen.

Um diese Alternativlosigkeit zu begründen, brauchen die Herrschenden ein zentrales Feindbild, dessen drohende Schatten sie überall heraufziehen sehen. Bis Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts waren das die Linken, die Roten. „Lieber tot als rot.“ Und wer erinnert sich nicht an die Rote-Socken-Kampagne der CDU im Bundestagswahlkampf 1994. Ein letzter, gescheiterter Versuch des damaligen Generalsekretärs der CDU, Peter Hintze, das alte Feindbild neu aufzulegen.

Um eine solche Strategie wirkungsvoll gestalten zu können, müssen Politiker nicht unbedingt lügen. Obwohl schon Otto von Bismarck gesagt haben soll: „Es wird niemals so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd.“ Nein, sie erzählen nur nicht die ganze Wahrheit, betonen das, was ihnen nutzen könnte und verschweigen alles andere. Auch Hannah Arendt argumentierte, dass das bloße Sagen der Wahrheit dem Wesen der Politik widerspräche. Das Verkünden der Wahrheit sei despotisch und lasse keine Debatte zu. Kein Wunder, dass die Bevölkerung immer politikerverdrossen wird und immer weniger das glaubt, was ihnen von offizieller Seite vorgegeben wird.

Nach langen Jahren einer scheinbaren Ruhe an der Feindbildfront ist jetzt endgültig ein neuer Feind ausgemacht: die Populisten. Und auch diese arbeiten mit Feinbildern, die sie von Einzelgegnern wie die Juden, die Muslime, die Flüchtlinge, die Monopolkapitalisten immer breiter ziehen und alle, die nicht ihrer Meinung sind zum Feind des Volkes erklären, die Andersdenkenden, die Intellektuellen und natürlich die Elite. Wobei für viele schon jemand, der einen grammatikalisch und stilistisch richtigen Satz in der deutschen Sprache formuliert, zu den elitären intellektuellen zählt.

Populisten ist für mich ein nichtssagendes Wort, das inflationär gebraucht wird. Denn hinter dieser Maske der Verharmloser und Vereinfacher, dank derer wir nicht mehr differenziert nachzudenken brauchen steht ein totalitärer Herrschaftsanspruch.

Da kommen doch Leute an die Macht und das noch durch allgemeine Wahlen legitimiert, die wesentliche Elemente wie Meinungsfreiheit oder Menschenrechte aufgeben: Kaczyński in Polen, Orbàn in Ungarn, Erdogan in der Türkei, Putin in Russland, Shinzo Abe in Japan und Donald Trump in Amerika. Von Wilders und Marine Le Pen wollen wir gar nicht reden. Sie wollen eigentlich keine Revolution im Sinne eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Strukturwandels, sondern sie nutzen Stimmungen in der Bevölkerung und teilen immer in „Wir“ und „Die da“, um darauf ihre ganz persönlichen Ideen zum eigenen Macht- und Besitzerhalt durchzusetzen. Mancher von ihnen glaubt sogar selbst daran, Politik zu machen, ohne dass es um etwas Größeres ginge, als um die eigenen narzisstischen Interessen. Und die Spitze des Widersinns ist erreicht, wenn jemand, der zum Establishment gehört, also „oben“ ist, seine Parolen aufbaut auf dem Feindbild „Ihr da oben – wir da unten“.

Ihr aller Vorläufer war Silvio Berlusconi, ein wahres Phänomen. Er wurde ebenfalls von einer tief sitzenden Zustimmung breiter Kreise getragen. Und dieses Phänomen lässt sich einfach verstehen:

Diese Typen präsentieren sich ständig als strahlende Sieger.

Sie zeichnen sich aus durch die Anhäufung von Vermögen – mehr oder weniger legal erworben, durch Bestechlichkeit, durch Willkür gegenüber den Gesetzen, durch Verachtung der anderen. Und diese destruktive Charakterstruktur entspricht tatsächlich auch der tiefen Sehnsucht breiter Kreise: „Eigentlich möchten wir selber Berlusconi sein“, sagt Roberto Saviano, Autor des Buches „Gomorrha“. Er macht darauf aufmerksam, wie verdorben die Charakterstrukturen nicht nur der Herrschenden, sondern auch der Beherrschten sind. Berlusconi und Co. können sagen: „Meine Wähler wollen mich so.“ (Seite 374)Die sogenannte Elite in Politik und Ökonomie vertritt die Interessen „ihres Volkes“. Der Mensch kümmert sich nicht mehr um sein Leben und sein Glück, sondern um seine Verkäuflichkeit.

Wie aber funktioniert das? Die Massenmedien der Herrschenden haben „im Volk“ genau das Bewusstsein geschaffen, das die eigene Karriere sichert. Das gilt nicht nur für das System Berlusconi und seine Nachfolger, sondern – auf weniger fundamentalistische, aber dennoch auf wirksame Weise – für alle Formen gesellschaftlicher Besitzstandswahrung.

Mit allen dieser Richtungen wird das Grundproblem nicht gelöst: Die Abhängigkeit und Unfreiheit der meisten Menschen. Im Gegenteil: Der Totalitarismus, eine diktatorische Form von Herrschaft wirkt in alle sozialen Verhältnisse ein. Wir brauchen nur einen Blick in die jüngere Vergangenheit zu werfen und wir sehen das nationalsozialistische Deutschland, den Stalinismus, die DDR, das Nordkorea als Prototypen totalitärer Regime, die in ihrer alles durchdringenden Ideologie nicht auf ein kritisches Bewusstsein setzen, sondern auf Überzeugungen.

In diesen Systemen gibt es keine Gewaltenteilung. Legislative, Exekutive und Judikative sind nicht unabhängig und getrennt voneinander, sondern liegen in der Hand des Diktators oder der herrschenden Partei.

Die bürgerlichen Freiheiten fallen nach und nach und die Menschenrechte werden missachtet. Keine Meinungsfreiheit, keine Medienfreiheit, de facto keine Religions- und Gewissensfreiheit, keine Freiheit der Kunst und Lehre. Das Pressewesen wird weitestgehend durch den Diktator bzw. die herrschende Partei beeinflusst. Die Meinungsfreiheit wird durch die Zensur unterdrückt oder ist gar nicht mehr vorhanden.

Oder wie Hannah Arendt in ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft sagte: „Das wesentliche der totalitären Herrschaft liegt also nicht darin, dass sie bestimmte Freiheiten beschneidet oder beseitigt, noch darin, dass sie die Liebe zur Freiheit aus den menschlichen Herzen ausrottet; sondern einzig darin, dass sie die Menschen, so wie sie sind, mit solcher Gewalt in das eiserne Band des Terrors schließt, dass der Raum des Handelns, und dies allein ist die Wirklichkeit der Freiheit, verschwindet“ (Seite 958)

Dagegen müssen sich die Verfechter einer liberalen Demokratie vehement erheben. Gut, die Demokratie verspricht kein gutes Leben. Sicherheit und Freiheit lassen sich in der Demokratie nicht gegeneinander abwägen. Konsens ist kein demokratisches Ideal. Moralismus und politische Empfindsamkeit ersetzen in der Demokratie weder Argumente noch politische Konflikte.

Aber Demokratie ist der einzige rechtlich-politische Raum, in dem Menschen ihr Leben und die alle gemeinsam betreffenden Fragen aktiv und in Freiheit miteinander gestalten. Nur in einer Demokratie können wir miteinander klarkommen, auch wenn es unvereinbare Positionen gibt. Gerade wir in Gesamtdeutschland haben doch in den letzten hundert Jahren schon alle Formen erlebt. Könnte es vielleicht sein, dass die so gescholtene Parteiendemokratie einfach das kleinste Übel ist?

Wir brauchen Demokratie, weil verhindert werden muss, dass ein Egoist die anderen unterdrückt; viele gemeinsam schlauer sind als einer alleine; Entscheidungen besser akzeptiert werden, wenn alle beteiligt sind. Gegen Demokratieverdruss hilft nur mehr Demokratie. Und die Demokratie funktioniert umso besser, je mehr wir uns verantwortlich fühlen, je mehr wir uns einmischen.

Die Möglichkeiten, sich einzumischen, sind zahlreich. Vom Stadtteil bis zum Parlament, von der Schule bis zum Arbeitsplatz. Sich vor allem einmischen in die eigenen Angelegenheiten. Doch wer hat den Mut gegen den Strom zu schwimmen? Ist es nicht einfacher in der Masse der Schweigenden, Mitläufer oder Desinteressierten unterzutauchen? Kurzfristig ja! Aber langfristig ist es für jeden Einzelnen wesentlich befriedigender, dort einzugreifen, wo Not am Mann oder an der Frau ist, sich so verhalten, wie wir tatsächlich empfinden. Plappern Sie nicht nach. Zeigen Sie, wie Sie selbst denken, fühlen und handeln. Das ist die Macht, die wir brauchen.

Und entwickeln Sie ein gesundes Misstrauen. „Glauben Sie niemand, der von sich behauptet, er komme immer zum Orgasmus.“ (Brigitte Zypries)

Essay: Fühlen und Denken statt Zählen

Fühlen und Denken statt Zählen

… oder warum wir lieber auf unseren Bauch hören sollten

Unser Leben, unsere Gesellschaft, unsere Welt werden immer komplexer. Komplexe Systeme haben eine große Zahl von verschiedenen Elementen, die in einer gemeinsamen Geschichte „irgendwie“ dynamisch aufeinander ein- und zusammenwirken. Diese Wirkungen sind weder klar zielorientiert, noch folgen sie festen Regeln. Damit sind schwer zu durchschauen. Natürlich suchen wir nach einfachen Lösungen und Beschreibungen. Diese finden wir im Zählen. Wachstumszahlen, Kontostände, Blutwerte und andere liefern uns scheinbare Klarheit. Dabei kommt das Denken zu kurz.

Jeder denkt. Bei jedem laufen elektrochemische Vorgänge im Gehirn ab. Sie werden genährt von Wissen, Halbwissen, Ängsten, Vorurteilen und Oberflächlichkeiten. So entstehen, manchmal lautlos, öfters dröhnend donnernde Wortblähungen, selten neutral oder wohlriechend, sondern meistens übelriechend. Brauchen diese Denkvorgänge andere Materialien, andere Rohstoffe? Nein, wir haben mehr Informationen als wir je verarbeiten können. Der Verdauungsprozess dieser Fakten, unsere Denkprozesse müssen sich grundlegend ändern.

Nein, schreien die Wertkonservativen, wir haben keine Werte mehr, die alten Werte oder Tugenden müssen wieder her. Und dabei waren sie es selbst, die die Werte auf dem Altar des eigenen Vorteiles geopfert haben und zu leeren Floskeln haben verkommen lassen. Und alle, die aufgrund ihrer eigenen Ohnmächtigkeit sich ganz und gar dem „law-and-order“-Gedanken verschrieben haben, brüllen begeistert ihre tumbe Zustimmung.

Und die Neoliberalen wollen sich noch von den notwendigen, letzten halbwegs funktionierenden Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens befreien und sehen in absolut freien Märkten die allumfassende Lösung, die – welch ein Zufall – gerade dem Durchsetzen ihrer eigenen Interessen dient.

Und die andere Gruppe der Warmduscher und weichgespülten Leisetreter kann sich nie so richtig entscheiden. Sie wägen ab, ohne eine funktionierende Waage zu haben. Sie bereden und wenden die Dinge so lange hin und her, bis ein glatt geschliffenes Nichts als Minimalkompromiss herauskommt. Und dabei belächeln sie mit überlegenem Kopfschütteln die wenigen, radikalen Weitsichtigen. Und sie versuchen und schaffen es auch, diese mit allen legalen und illegalen Mitteln mundtot zu machen.

Und eines der legalen, unauffälligen und subtilen Mittel ist es, über Nebenkriegsschauplätzen die Menschen abzulenken, dumm zu halten und am wirklichen Nachdenken und erst recht am Voraus-Denken zu hindern.

Nur was sich rechnet, zählt heutzutage. Dabei geht es eigentlich um Alles: Es geht um Orientierung.

Vielen genügt Technologie. Aber Technologie hat oft wenig mit Bildung, sondern viel mit Automatismen, Logiken, Zahlen, aber nicht mit Verhältnissen und Denken zu tun.

In der gegenwärtigen Welt lieben wir die vordefinierte Matrix, die Schablone, die nur noch das erfasst, was gesehen, gemessen und gezeigt werden kann. Komplexität wird möglichst ausgeklammert, simple Zusammenhänge gezeigt. Diskutiert wird nur über das „Wie“ und nicht über das „Warum“.

Keine andere Zeit als die unsere zeichnet sich durch einen derart großen menschlichen Erfahrungsverlust aus.

Die große Philosophin Hannah Arendt schrieb schon vor über 50 Jahren anlässlich ihrer Analyse des nationalsozialistischen Regimes: „Das Lästige an den Nazi-Verbrechern war gerade, dass sie willentlich auf alle persönlichen Eigenschaften verzichteten, die sie zu Menschen machten, ganz so als ob dann niemand mehr übrigbliebe, der entweder bestraft oder dem vergeben werden könnte. Immer und immer wieder beteuerten sie, niemals etwas aus Eigeninitiative getan zu haben; sie hätten keine wie auch immer gearteten guten oder bösen Absichten gehabt und immer nur Befehle befolgt.“ Ein Niemand eben.

Früher – früher war ja bekanntlich alles besser – ja, früher dachten die Menschen noch. Mag sein. Das zu beweisen oder das Gegenteil davon, würde zu nichts führen. Das eine würde dazu führen, die alten Zustände wiederherzustellen. Das andere würde vom Grundsatz auszugeben, dass Menschen doch nur eine Art „unverständiges Wesen“ sei und nichts dazu lernen könnte.

Wie hat „früher“ der Mensch gelernt, denken gelernt? Er musste sich auf oft mühsamen und langwierigen Wegen seine benötigten Informationen zusammensuchen, seine Erfahrungen sammeln und über den ständigen Kreislauf „Versuch-und-Irrtum“ seine Weisheiten erlangen, die Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben, die ihn mit sich und seiner Umwelt halbwegs passabel zu Recht kommen ließen. Und hatte er für sich seine passende Lösung gefunden, dann konnte er mit ruhigem Gewissen und ohne größere Angst vor Veränderungen bei gleichem Erkenntnisstand den Rest seines Lebens mehr oder weniger geruhsam verbringen.

Dieses System hat der Mensch bis heute nicht geändert. Mit einem kleinen Unterschied: sein Umfeld wandelt sich rasend schnell und alle Informationen, die er notwendig hat, stehen ihm einfach, schnell und eigentlich gebrauchsfertig zur Verfügung. Eigentlich – wenn er denn von ihnen Gebrauch machen würde. Aber genau das ist sein Dilemma: Er kann sie nicht nutzen. Weil er sie nicht zusammensuchen muss, fehlt ihm die Erkenntnis tieferer Zusammenhänge und er glaubt, da ja alle Informationen vorliegen, er werde dadurch jede Situation beherrschen. Er hat nämlich gelernt Informationen anzusammeln und nicht, sie auszuwerten oder zu verwerten. Und in unserem überkommenen Schul- und Bildungssystem wird das noch gefördert.

Wir müssen nicht Wissen gewinnen, sondern Erkenntnisse. In unseren Schulen wird der Schwerpunkt auf Lernen und Wissensvermittlung gelegt. So wie früher, als wir noch in einfachen, durchschaubaren Systemen lebten. Und zum Hohn der Lehrer, dass im Zeitalter von Wikipedia mehr Wissen zur Verfügung steht, als er selber nicht einmal in zehn Leben unterrichten könnte.

Auf der Strecke bleiben bei dieser Form die Intuition, das Entwickeln von Gespür für Situationen und die Unterscheidungskraft von „Wichtig“ und „Unwichtig“. Natürlich soll jedes Kind Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Darüber hinaus sollte es aber auch lernen Hintergründe, Absichten, Zwischentöne zu erkennen, lernen auf sein Gefühl zu hören. Und genau das wird nicht nur vernachlässigt, sondern fehlt gänzlich.

Intuition ist etwas, dass wir nicht zu lernen brauchen. Wir besitzen sie bereits. Lösen wir uns vom einfachen Zählen und simpler Technologiegläubigkeit. Nehmen wir uns ein Beispiel an kleine Kinder, die noch nicht sprechen, die also noch mehr „ihren Bauch“ als ihren „Kopf“ benutzen. Hier sehen wir Intuition. Auch uns ist die Intuition nicht verloren gegangen. Sie schlummert nur. Wecken wir sie auf. Lassen wir das Denken still werden. Dann spüren wir wieder unsere Intuition. Und jeder fühlt sie anders. Für den einen ist es ein Gefühl, ein Unbehagen, das warnt. Für den anderen sind es die Schmetterlinge im Bauch, weil er die richtige Antwort gefunden hat. Oder es ist der helle Blitz, der ihnen sagt: Das ist es.

Egal wie wir es nennen ob Ahnung oder Gefühl, die Intuition hilft dabei, uns unseren Weg durch unser Leben zu weisen. Wir achten oder verlassen uns nicht immer auf unsere Intuitionen und verdrängen diese auch öfters. Wenn wir aber mehr auf unser „Bauchgefühl“ hören, kann das unser Leben positiv verändern.

Der französische Denker Joseph Joubert notierte um 1800: Der Verstand kann uns sagen, was wir unterlassen sollen. Aber das Herz kann uns sagen, was wir tun müssen.

Rezension: Franz von Assisi – Gunnar Decker – Siedler Verlag

Ausstieg aus dem Immer-schneller-und-immer-mehr.

Franz von Assisi: Der Traum vom einfachen Leben – Gunnar Decker, 432 Seiten, Siedler Verlag (26. September 2016), 26. 09. 2016, 26,99 €, ISBN-13: 978-3827500618

„Was für einen Anfang wagt da einer!“ (Seite 69). Dieser Satz, den Gunnar Decker über das Auftreten des 28-jährigen Franz von Assisi vor Papst Innozenz III. sagt, könnte auch über den Amtsantritt von Jorge Mario Bergoglio stehen, als er sich am 13. März 2013, zum 266. Bischof von Rom gewählt, einen neuen Namen gab: Franziskus I. und damit auch ein völlig neues Programm in der katholischen Kirche auflegte. (siehe dazu auch seine Enzyklika Laudato si`)

Gunnar Decker, der Berliner Religionsphilosoph, nimmt uns in seinem neuen Buch mit auf eine ebenso lehrreiche wie unterhaltsame Zeitreise ins Mittelalter, als der Bettelmönch Franz von Assisi nichts weniger wollte, als Welt und Kirche zu verändern.

Francesco, geboren als Sohn des reichen und einflussreichen Tuchhändlers Pietro Bernadone geboren, kennt beide Seiten: Reichtum, Macht und Vergnügungen der oberen Gesellschaftsschicht und Armut und Verzweiflung der vielen Zurückgelassenen und Ausgestoßenen. Schnell erkennt er die Fehlentwicklungen von Reichtum (Kapitalismus) und vor allem der weltlichen Macht der Kirche.

Wie wurde aus dem bürgerlichen Lebemann Giovanni Battista Bernadone der asketische Bettelprediger Franziskus? Und was wurde aus seiner Vision von einem Leben in der Nachfolge von Jesus Christus?

Neben einer äußerst klugen und kenntnisreichen Biographie, mit sehr guten Informationen aus primären Quellen und sehr interessanten sekundären Quellen, liefert Gunnar Decker das farbige und plastische Bild eines Mannes, dessen Strahlkraft alle konfessionellen und zeitlichen Unterschiede überwindet und gerade in den Zeiten eines Turbokapitalismus und des Überdrusses, Halt und Zuflucht bietet.

Für mich besonders interessant sind in diesem Buch zwei Aspekte:

Einmal der Einfluss Franz von Assisis auf Kunst und Kultur, von Boccaccio, G.K. Chesterton, Luise Rinser, Hermann Hesse, Rilke bis zu Steven Spielberg, die sich zu allen Zeiten immer wieder mit seiner Botschaft auseinandersetzen, die uns Antworten auf die Fragen gibt, die wir auch heute an das Leben stellen.

Zum anderen die Reaktionen der Amtskirche, die als die wahren Mächtigen in der Kirche seine Reformbewegung ausbremsen, die vergleichbar ist mit dem Kampf, den verschiedene Kreise der Kurie heute gegen Papst Franziskus I. führen. Wer wird siegen? Das kirchliche Establishment oder der unkonventionelle neue Papst?

Eine insgesamt lohnende Lektüre, die ebenso viel Kenntnisse vermittelt wie sie Lesevergnügen bereitet.

Hier geht es direkt zum Buch auf der Seite des Siedler Verlages

https://www.randomhouse.de/Buch/Franz-von-Assisi/Gunnar-Decker/Siedler/e474383.rhd

Fragen Sie in Ihrer örtlichen Buchhandlung nach diesem Buch. Wenn Sie in meiner Gegend „Landkreis Merzig-Wadern“ leben, dann wenden Sie sich an die Rote Zora: http://www.rotezora.de